Exkurs

Zwangsarbeit in den deutschen Kolonien

von Jonas Kreienbaum

Der Erwerb von Kolonien im 19. und frühen 20. Jahrhundert wurde von den europäischen Kolonialmächten in der Regel mit Verweis auf eine "Zivilisierungsmission" begründet. Das galt sowohl für das Deutsche Reich, das ab 1884 verschiedene Kolonien in Afrika, China und im Pazifik in Besitz genommen hatte, als auch für die älteren Kolonialmächte wie Großbritannien, Frankreich oder Portugal. Diese "Zivilisierungsmission" beinhaltete, Sklavenhandel und Sklaverei zu unterbinden, an denen die Kolonialmächte selbst meist Jahrhunderte lang aktiv beteiligt gewesen waren. Ohne den Rückgriff auf Sklavenarbeit erwies es sich für die Kolonisatoren jedoch als ausgesprochen schwierig, die Kolonisierten zur Arbeit auf europäischen Plantagen und Farmen, in Minen oder beim Eisenbahnbau zu bewegen. Die wirtschaftlichen Ziele des Kolonialismus, wie etwa das Erschließen neuer Absatzmärkte für eigene Exporte und das Gewinnen von Rohstoffen, waren so kaum zu erreichen. Die sogenannte "Arbeiterfrage" war daher eines der dominierenden Themen aller Kolonialpolitik im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. Alle europäischen Kolonialmächte experimentierten mit verschiedenen Formen des Zwangs, um lokale Arbeitskräfte zu mobilisieren.

Der langsame Tode der Sklaverei

Zwar erließen Kolonialregierungen Gesetze gegen den Sklavenhandel, sie gingen aber keineswegs – und aller zivilisatorischen Rhetorik zum Trotz – konsequent gegen Praktiken der Sklaverei vor. Das lag daran, dass sie gerade in der Phase der Etablierung kolonialer Herrschaft auf die Kooperation afrikanischer Eliten angewiesen waren und diese, zumindest in manchen Regionen, zu den größten Sklavenhaltern zählten. Auch fürchteten die kolonialen Beamten, dass eine schnelle Abschaffung der Sklaverei mit einem massiven wirtschaftlichen Einbruch einhergehen würde. Um 1900, also 15 Jahre nach Beginn der deutschen Herrschaft, befanden sich in "Deutsch-Ostafrika" – ein Gebiet das die heutigen Staaten Tansania, Burundi und Ruanda umfasste – noch etwa 400 000 Sklav:innen im Besitz afrikanischer und arabischer Eliten. Kurz vor Beginn des Ersten Weltkrieges waren es immer noch 165 000. Die Sklaverei starb in Afrika in der Tat einen sehr "langsamen Tod", wie es die Historiker Paul Lovejoy und Jan Hogendorn ausgedrückt haben.

Steuerarbeit und Passverordnungen

Eine weitere Strategie zur Lösung der Arbeitskräftefrage war die Einführung von Hütten- oder Kopfsteuern, in manchen Kolonien auch der Erlass von Passverordnungen und Gesetzen gegen "Landstreicherei". In Togo – zu dieser Zeit eine deutsche Kolonie – konnte die Steuer in Ermangelung einer Geldwirtschaft nicht einfach bezahlt werden, sondern musste von der männlichen Bevölkerung in Arbeitstagen abgeleistet werden. Faktisch handelte es sich bei dieser "Steuerarbeit" um eine Form der Zwangsarbeit, die von den Distriktleitern weitgehend willkürlich angeordnet wurde, und ohne die der Bau von Straßen, Verwaltungsgebäuden oder Telegraphenlinien undenkbar gewesen wäre. Nicht zuletzt angesichts der Willkür und der brutalen Gewalt, mit der diese Form der Zwangsarbeit einher ging, rief sie den Widerstand der Kolonisierten hervor. Meist entzogen sie sich den Forderungen durch Abwanderung. In Ostafrika war die Einführung einer Kopfsteuer im Jahr 1905, die unter anderem als Zwangsarbeit auf den Baumwollfeldern der Deutschen abgeleistet werden sollte, einer der Hauptgründe für den Ausbruch des Maji-Maji-Krieges, bei dem die lokale Bevölkerung gegen die deutsche Kolonialmacht kämpfte.

 

Vertragsarbeit

Ein weiterer Ansatz war die Anwerbung von afrikanischen und asiatischen Vertragsarbeiter:innen. Letztere wurden zeitgenössisch oft als "Kulis" bezeichnet und nach der Abschaffung der Sklaverei in den Amerikas im Laufe des 19. Jahrhunderts im großen Stil auf den Plantagen des Kontinents eingesetzt. Lediglich auf Zeit, aber vielfach unter Zwang angeworben, unterschieden sich die Bedingungen, unter denen diese Arbeitsmigrant:innen eingesetzt wurden, nur graduell von denen früherer Sklavenarbeiter:innen. Die deutsche Kolonialverwaltung schickte einige chinesische Kontraktarbeiter nach Afrika, aber vor allem in die Pazifikkolonien. Auf Samoa, wo die einheimische Bevölkerung anders als in den übrigen deutschen Kolonien keiner Arbeitspflicht unterlag, waren es bis 1913 fast 4000. Sie arbeiteten vorrangig auf den Kokos- und Kakaoplantagen und schalteten erfolgreich den chinesischen Staat ein, um gegen die schlechten Arbeitsbedingungen vorzugehen.

Lager, Zwangsarbeit und "Erziehung zur Arbeit"

Das brutalste Regime der Zwangsarbeit schufen die Deutschen im Zuge des genozidalen Krieges gegen Herero und Nama (1904-1908) in "Deutsch-Südwestafrika", ein Gebiet, das dem heutigen Namibia entspricht. Anfang 1905 errichtete die "Schutztruppe", wie das deutsche Kolonialmilitär genannt wurde, eine Reihe von Konzentrationslagern, in denen sie die etwa 25 000 Gefangenen systematisch zur Arbeit zwang. Ähnlich wie in den späteren Lagern der Nationalsozialisten führte der Kolonialstaat ein System der Häftlingsvermietung ein. Gegen eine Leihgebühr, die an das jeweilige Bezirksamt zu entrichten war, wurden den Firmen und Ansiedlern gefangene Herero und Nama zur Zwangsarbeit zugeteilt. Da die Aufseher auch Kinder und Kranke oft mit roher Gewalt zur Arbeit trieben, war die Sterblichkeit unter den Zwangsarbeiter:innen extrem hoch.

Besonders schlimm waren die Bedingungen beim Bau der Südbahn von Lüderitzbucht ins Landesinnere. Hier starben in einem Monat zeitweise mehr als zehn Prozent der circa 1400 überstellten Kriegsgefangenen. Aber selbst angesichts solch massiver Gewalt rechtfertigten die Deutschen die Zwangsarbeit als "Erziehung zur Arbeit", die letztlich im Interesse der Kolonisierten liege. Gouverneur Friedrich von Lindequist meinte gar, es sei "geradezu ein Glück für sie [die Herero], daß sie, bevor ihnen die volle Freiheit zurückgegeben wird, arbeiten lernen, da sie sonst sich voraussichtlich weiter arbeitsscheu im Lande herumtreiben und […] ein elendes Leben fristen würden."

Diese Argumentation steht sinnbildlich für die kolonialrassistische Logik, mit der die Kolonialmächte die Ausbeutung der Menschen in den Kolonien auch mit deren vermeintlich fehlender Arbeitsmoral begründeten.

Literatur:

Eckert, Andreas: Der langsame Tod der Sklaverei. Unfreie Arbeit und Kolonialismus in Afrika im späten 19. und im 20. Jahrhundert, in: Elisabeth Hermann-Otto (Hg.): Sklaverei und Zwangsarbeit zwischen Akzeptanz und Widerstand, Hildesheim/Zürich/New York 2011, S. 309-322.

Habermas, Rebekka: Skandal in Togo. Ein Kapitel deutscher Kolonialherrschaft, Frankfurt a.M. 2016.

Haschemi, Minu: Koloniale Arbeit: Rassismus, Migration und Herrschaft in Tansania (1885-1914), Frankfurt/New York 2019.

Kreienbaum, Jonas: "Ein trauriges Fiasko". Koloniale Konzentrationslager im südlichen Afrika, 1900-1908, Hamburg 2015.