Exkurs

Ausgebeutet und unsichtbar: Zwangsarbeit heute

von Kim Weidenberg / Servicestelle gegen Arbeitsausbeutung, Zwangsarbeit und Menschenhandel

Die Annahme, dass Zwangsarbeit ein Phänomen der Vergangenheit ist, geht an der Realität vorbei. Schätzungen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) zeigen, dass Zwangsarbeit in den letzten Jahren stark zugenommen hat. Rund 50 Millionen Menschen sind aktuell weltweit betroffen, von diesen werden 28 Millionen zu einer Arbeit gezwungen, 22 Millionen Menschen leben in erzwungenen Ehen und werden vor allem als Hausbedienstete ausgebeutet. Mehr als die Hälfte aller Zwangsarbeit findet dabei in Ländern mit mittlerem oder hohem Einkommen statt.

Als Zwangsarbeit gilt dabei nach der Definition des ILO-Übereinkommens 29 (1930, bestätigt 2014), "jede Art von Arbeit oder Dienstleistung, die von einer Person unter Androhung irgendeiner Strafe verlangt wird und für die sie sich nicht freiwillig zur Verfügung gestellt hat". Die Grenzen von Zwangsarbeit und Arbeitsausbeutung sind oft fließend und gehen mit der Zunahme der Ausnutzung der Hilflosigkeit oder Zwangslage eines Menschen einher. Meistens kommt beides zum Tragen in der Zwangsarbeit.

Hoher Profit – Geringes Risiko

Der Großteil der Zwangsarbeit findet in privaten Unternehmen und Haushalten statt. Aber in fast allen Branchen kann es zu Arbeitsausbeutung kommen. In Niedriglohnsektoren wie der Fleischindustrie, der Paketbranche, der Gastronomie, der Pflege oder der saisonalen Landwirtschaft besteht für migrantische Arbeitskräfte ein besonders hohes Risiko, ausgebeutet zu werden. Dabei sind die erwirtschafteten Profite enorm: Die ILO schätzte 2014, dass die jährlichen Gewinne bei weltweit über 150 Milliarden US-Dollar liegen.

Ausbeuter:innen müssen kaum fürchten, angeklagt und bestraft zu werden. Werden Menschen in ausbeuterischen Beschäftigungen entdeckt, werden sie in der Regel weder über ihre Rechte aufgeklärt noch als potenzielle Opfer gesehen. Nur wenige Fälle werden aufgeklärt. Oft werden die Betroffenen abgeschoben, ohne eine Chance zu bekommen, ihren ausstehenden Lohn einzuklagen.

Zwangsarbeit in globalen Lieferketten

Zahlreiche Studien sprechen für eine weite Verbreitung von Zwangsarbeit in globalen Lieferketten. Dabei kann es sich um Warenlieferketten wie Obst oder Gemüse aus der Landwirtschaft, um Kleidung, Handys, Computer oder Schmuck oder um Dienstleistungen wie Paketlieferungen oder Hausarbeit handeln. Wanderarbeiter:innen sind dabei besonders häufig von Zwangsarbeit betroffen, auch aufgrund unfairer und unethischer Anwerbepraktiken. Armut, restriktive Grenzpolitik, mangelnder Arbeitsschutz sowie Rassismus oder Diskriminierung aufgrund von Geschlecht, Sexualität, ethnischer Zugehörigkeit oder anderen sozialen Merkmalen sind u.a. Gründe dafür, dass migrantische Arbeitskräfte leichter zu Betroffenen von Zwangsarbeit in der globalen Wirtschaft werden.

Migrant:innen sind besonders bedroht von Zwangsarbeit

Deutschland gehört zu den bedeutenden Zielländern für Arbeitsmigrant:innen. Die Zahl der Migrant:innen unter den Betroffenen von Zwangsarbeit ist deutlich höher als der Anteil der Migrant:innen an der gesamten Erwerbsbevölkerung. Weil ihre Qualifikationen nicht anerkannt werden oder ihnen eine Fachausbildung fehlt, besetzen migrantische Arbeitskräfte besonders Stellen im Niedriglohnsektor. Schon die Vermittlung kann ein Einfallstor für Menschenhandel, Ausbeutung und Zwangsarbeit sein. Denn diese Straftaten beginnen regelmäßig damit, dass Betroffene über Bedingungen und Entlohnung einer Arbeitsstelle getäuscht werden.

Im Zielland angekommen, kennen sie ihre Rechte nicht, sprechen nicht die Landessprache und haben kaum soziale Unterstützung oder Netzwerke. Menschen, die unter Zwang ausgebeutet werden, leben häufig auch isoliert, ihre Unterkünfte liegen oft weit entfernt oder direkt bei der Arbeitsstätte und unter der Kontrolle der Arbeitgeber:innen.

Die Abhängigkeit eines Menschen von der Arbeitsstelle, durch Armut, fehlende Aufenthalts- oder Arbeitserlaubnis, begünstigt vielfältige Formen von Zwang: Die systematische und willkürliche Vorenthaltung des Lohns, extreme Arbeitszeiten, Nötigung, Isolation, Entzug der Dokumente bis zu körperlicher Gewalt. Sie werden auch indirekt unter Druck gesetzt: So müssen migrantische Arbeitskräfte erhöhte Reise- oder Anwerbekosten abbezahlen oder ihnen wird mit Abschiebung gedroht.

Zwangsarbeit in Deutschland: Zwei Fallbeispiele

Frau A. floh Anfang 2022 vor dem Krieg aus der Ukraine nach Deutschland. Eine Agentur hat ihr eine Arbeit als Reinigungskraft in einem Vier-Sterne-Hotel für 300 Euro Gebühr vermittelt. Ihr wurden eine Unterkunft und 1200 Euro monatlich versprochen. Nach der Ankunft musste sie mit drei anderen Frauen aus der Ukraine in einem kleinen Zimmer mit Schimmelbefall leben. Nach einem Monat bekam sie 200 € ausgezahlt. Sie sammelte leere Flaschen auf der Straße, um zu überleben. Aufgrund von Gesprächen mit Journalist:innen wurde Frau A. nachts in der Unterkunft bedroht. Frau A. war so verzweifelt, dass sie mit Hilfe einer Beratungsstelle in ein Frauenhaus flüchtete, traumatisiert und mittellos.

Andrei kommt aus Rumänien und arbeitete im Januar und Februar für eine Baumschule in Deutschland. Bei seiner Arbeit wickelte er täglich hunderte zentnerschwere Baumstämme in Plastikfolie und lud sie für den Transport auf LKWs. An anderen Tagen pflanzte er bei Minustemperaturen zwölf Stunden Setzlinge in die Erde. Andrei berichtete, dass er von den aggressiven Vorgesetzten in der Baumschule mehrfach beleidigt und tätlich angegriffen wurde, wenn er in ihren Augen schlecht gearbeitet hatte. Einen anderen rumänischen Kollegen habe der Inhaber der Baumschule sogar mit einem Messer bedroht. Der Landwirt hatte zu Beginn alle Ausweise eingesammelt, angeblich damit diese nicht gestohlen würden. Nach den Beschwerden wurde die Stimmung immer aggressiver. Als er sich gemeinsam mit weiteren Kollegen über die Arbeitszeiten und Wohnbedingungen beschwerte, setzte der Arbeitgeber die zehn Männer auf die Straße, trotz Minusgraden, ohne ihnen ihren Lohn auszuzahlen oder ihre Ausweise zurückzugeben. Die Arbeiter waren damit obdachlos.

Umsetzung der Betroffenenrechte – Schutz vor Zwangsarbeit

Unterschiedliche Branchen und Industrien in Deutschland beuten Menschen aus, ohne dass es strafrechtliche Folgen hat oder die Opfer ihre Rechte einfordern können. Der Bedarf an Fachberatungsstellen sowie schneller Versorgung und adäquate Unterbringungsmöglichkeiten ist groß. Wenn Betroffene von Zwangsarbeit sich aus dem Ausbeutungsverhältnis befreien, sind sie oft obdachlos und traumatisiert und brauchen dringend Unterstützung und gesellschaftlichen Schutz.

Die Servicestelle gegen Zwangsarbeit stärkt bundesweit Kooperationsstrukturen gegen Arbeitsausbeutung, Zwangsarbeit und Menschenhandel, sensibilisiert (Strafverfolgungs-)Behörden, Beratungsstellen und Sozialpartner zu diesen Themen, insbesondere zu Erscheinungsformen, Identifizierung der betroffenen Personen und Handlungsmöglichkeiten. Die Servicestelle wird vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales gefördert und ist unter der Trägerschaft von Arbeit und Leben Berlin-Brandenburg DGB/VHS e. V.

 

Literatur/Weiterführendes:

Website der Servicestelle gegen Zwangsarbeit: https://www.servicestelle-gegen-zwangsarbeit.de/

International Labour Organization (ILO), Profits and Poverty: The Economics of Forced Labour, Genf 2014, online unter: https://www.ilo.org/global/topics/forced-labour/publications/WCMS_243391/lang--en/index.htm

Beratungsstelle für Mobile Beschäftigte Niedersachsen: https://www.beratungsstelle.mobi/